"Erfinder" Artur Matthaes und Ideen-Nachahmer

Die Idee zu dieser kleinen Form der Filmpräsentation hatte der Leiter des damaligen Bezirkslichtspielbetriebes (BLB) Halle, Artur Matthaes, Ende der 1960er, Anfang der 1970er Jahre. Ziel war es, Film getrennt vom Saal und mit gastronomischer Betreuung zeigen zu können, um so die Filmtheater attraktiver zu machen und dem dramatischen Besucherrückgang entgegenzuwirken. Direkte Vorbilder hatte der "Erfinder" nicht – weder in Ost- noch in Westeuropa scheint es vergleichbare Einrichtungen gegeben zu haben; zudem war konkretes, anschauliches Wissen über "den Westen" kaum vorhanden und fand das Lichtspielwesen in den übrigen Ostblockstaaten unter völlig anderen Bedingungen statt.

Entwurf für Kinobar im Kino Gadebusch; Orig./Repro: SHStArch Dresden
Entwurf für Kinobar im Kino Gadebusch; Orig./Repro: SHStArch Dresden

Ehrgeizige technische Innovationen unter Mangelwirtschafts-Bedingungen

Das größte Problem bei der Projektierung der ehrgeizigen Idee war die Glasscheibe – für eine durchgehende Scheibe reichten die technischen Möglichkeiten nicht aus, also wurden meist mehrere kleine nebeneinander eingesetzt und durch Verbindungsstreifen gehalten. Außerdem sollte sich das projizierte Filmbild ja nicht in der Glasscheibe spiegeln, also musste auch hier gerechnet und probiert werden.

Bauboom im Bezirk Halle

Die erste Visionsbar der DDR (der Welt?!) wurde in die "Lichtspiele Theißen" (bei Zeitz im äußersten Südzipfel des Bezirkes Halle) eingebaut und am 22. April 1970 eröffnet. Es folgten "Glasscheiben-Kinos" in Zeitz, Thale, Querfurt, Artern (ein Foto von 1976 findet sich hier), Kayna, Weißenfels, Sangerhausen, Gräfenhainichen, Köthen, Bitterfeld, Merseburg (siehe Foto unten), Eisleben, Aken, Bernburg und anderen Orten. Im Jahr 1989 hatte nahezu jeder der 23 Kreise im Bezirk Halle mindestens ein Filmtheater mit Visionsbar.

Visionsbar 'Völkerfreundschaft' Merseburg, * 1976; Quelle: BFD Halle, Lehnhof Aquarium-Architektur: Bar 'Scala' Burkhardtsdorf; Orig./Repro: SStArch Ch.
li: Visionsbar im Filmtheater "Völkerfreundschaft" Merseburg, Bezirk Halle (eröffnet 1976); Quelle: BFD Halle, Lehnhof
re: Aquariums-Architektur: Bar in der "Scala" Burkhardtsdorf, Bezirk Karl-Marx-Stadt (eröffnet 1980); Orig./Repro: SStArch Chemnitz

Ausbreitung der Idee über Mundpropaganda

Alle Visionsbars, die in den übrigen Gegenden der DDR gebaut wurden, dürften Nachbauten der hallischen Erfindung gewesen sein. Sehr wahrscheinlich verbreitete sich die Idee in den ersten Jahren informell, d.h. im Rahmen von Erfahrungsaustauschen zwischen einzelnen Bezirksfilmdirektionen (BFDen) und über persönliche Kontakte einzelner leitender Mitarbeiter der BFDen. Die Magdeburger Kinoverwalter kopierten die Visionsbars sehr schnell – schon 1974 wurde in das Magdeburger "Theater des Friedens" die erste Bar eingebaut. Im Bezirk Karl-Marx-Stadt wurden zwischen 1976 und 1980 fünf Visionsbars in größere Filmtheater eingebaut (siehe Foto oben). Auch rund um Dresden, Frankfurt/Oder, Gera, Erfurt und Potsdam wurden in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre "Glasscheiben-Kinos" errichtet. Auch hier ging der entscheidende Impuls offenbar von Besuchen in Bars befreundeter BFDen aus: Ein Zittauer Filmvorführer etwa berichtete, dass die Visionsbar in der "Schauburg" nach Vorbildern im Bezirk Karl-Marx-Stadt gebaut wurde.

Die HV Film mischt sich ein

Seit etwa 1976 lief der Informationsfluss auch über offizielle Kanäle. Mitte der 1970er Jahre prüfte eine Arbeitsgruppe des Ministeriums für Kultur die Neuentwicklung, ein Informationsfilm wurde gedreht und Besichtigungstouren zu bestehenden Visionsbars angeboten. Spätestens 1977 hörten auch die letzten noch "unwissenden" BFD-Mitarbeiter der DDR von diesen neuen "Glasscheiben-Kinos", da Artur Matthaes in seinem Referat bei der Zentralen Konferenz des Lichtspielwesens darauf einging. Dieser Vortrag und andere Anmerkungen zum Thema "kleine Kinoformen" lösten eine hitzige Debatte aus, in der sich vor allem Filmemacher (z.B. Konrad Wolf) und Filmpublizisten (z.B. Fred Gehler) skeptisch bis ablehnend äußerten. Da die Neuentwicklungen jedoch vom Publikum mit Begeisterung angenommen wurden, Geld in die leeren Kinokassen spülten und der Bau ohnehin kaum rückgängig gemacht werden konnte, blieb der Hauptverwaltung Film nichts anderes übrig, als sich dennoch für die Innovationen auszusprechen.

Und heute? Was ist aus den Bars geworden?

Tanja Tröger 2004–2013